• Eine kurze Geschichte der Paradigmen
• „Die Erde als Scheibe und als Mittelpunkt der Welt”
• „Die Zeit ist allgemeingültig und nicht relativ”
• Wirtschaftstheorien: Auf Vermutungen gebaute Ideenwelten
• Politik: Populismus und „handwerkliche Fehler“
Eine kurze Geschichte der Paradigmen
Das Denken der Menschen in den wechselnden Zeiten wird seit jeher von beherrschenden Auslegungen bestimmt. Die dominierende Erklärung eines wichtigen Zeitthemas nennt man ein Paradigma. Viele fehlerhafte alte Paradigmen wurden im Lauf der Zeiten durch verbesserte Paradigmen abgelöst, andere halten sich bis heute. Beispielhaft seien hier genannt: die alten Theorien der Erde als Scheibe sowie der Erde als von Sonne und Planeten umkreistem Mittelpunkt der Welt, die lange Nicht-Akzeptanz der Einsteinschen Relativitätstheorie, die Idee vom Arbeitsmarkt als Bestimmer der Beschäftigungshöhe, die Aufteilung des Gesamteinkommens als Vergütung für die „Produktionsfaktoren” Arbeit mit Lohn&Gehalt einerseits und Kapital mit dem Gesamtgewinn andererseits, oder die Wirtschaft als durch Faktor-„Werte”, Nutzen-Erwägungen oder unterstellte Gleichgewichtstendenzen von Angebot und Nachfrage erklärtes System.
„Die Erde als Scheibe und als Mittelpunkt der Welt”?
Jedes Kind macht die Erfahrung, dass es in alle Richtungen wandern und sich umsehen kann, dass es nirgendwo an ein Ende kommt und herunterfällt. Die Erde als Scheibe mit riesiger Ausdehnung, über der sich der Himmel wölbt, das klang verständlich. Daran glaubten frühe Kulturen und spätantike Christen.
Im Altertum war man aber weiter: Der griechische Gelehrte Eratosthenes war nicht der Erste, der auf die Idee kam, die Erde habe die Form einer Kugel, aber er fand um 220 v. Chr. einen indirekten Beweis: Im heutigen Assuan stand die Sonne am 21. Juni mittags senkrecht am Himmel, während der Obelisk in Alexandria (835 km weiter nördlich) zur genau gleichen Tageszeit einen deutlichen Schatten warf (daraus entwickelte er eine Schätzung des Erdumfangs). Statt Legenden: Das Kugelmodell war im Mittelalter schon kirchlich anerkannt [0]. Durch die Entdeckung Amerikas wurde es Allgemeinwissen in Europa.
Dagegen hatte die damalige katholische Kirche eine sehr bestimmte, festgefügte Vorstellung über die Positionen von Erde, Sonne und Planeten zueinander — und die Unterstützung durch Aussagen in der Bibel. Der Vatikan besitzt heute noch eine eigene Sternwarte. Europäische Gelehrte beschäftigten sich intensiv mit Astronomie und entwickelten ausgeklügelte Theorien, begründet durch allerlei Vermutungen. Die Sphärentheorie[1] überdauerte in der Fassung durch Claudius Ptolemäus 1300 Jahre: Sonne, Mond und Planeten kreisten an mindestens fünf völlig durchsichtigen Kristallsphären über uns. Die Planeten rotierten mit kleiner Kreisbahn (Epizykel) auf großem Kreis (Deferent) um das Deferenzzentrum neben der Erde[2]. Die äußere Sphäre trage die Fixsterne.
Der Pole Nikolaus Kopernigk (Kopernikus) stellte aufgrund seiner Berechnungen die Theorie auf, dass die Erde sich um sich selbst drehe und mit den anderen Planeten die Sonne umkreise. Er veröffentlichte sie 1543 kurz vor seinem Tode. Der Bannstrahl traf deshalb erst Galileo Galilei, der diese Thesen aufgriff. Sie schienen absurd, heißt es doch im 93. Psalm: „Der Erdkreis ist fest gegründet, nie wird er wanken”, und Josua „hieß die Sonne stillstehen, und nicht das Erdreich." Nicht nur der Papst und der Heilige Stuhl, auch die protestantischen Anführer Johannes Calvin, Philipp Melanchton und Martin Luther empörten sich.
1616 befasste sich das Heilige Offizium mit Galileis Thesen, stufte sie als häretisch (ketzerisch) ein und verbot weiteren Druck und Verbreitung. Galilei musste abschwören und versprechen, die Kopernikanischen Theorien künftig weder zu lehren noch zu verteidigen. Daran hielt er sich — offiziell. Trickreiche Umgehungsversuche brachten ihm weitere Anklagen ein. Sein heliozentrisches System war zunächst aber nicht genauer, denn „auf rein wissenschaftlicher Ebene erlaubte das über lange Zeit ausgereifte geozentrische Modell deutlich bessere Voraussagen als das zunächst noch mangelhafte heliozentrische System”[3].
In den Jahrhunderten nach der „kopernikanischen Zeitenwende” wurden die Stimmen und Schriften der Heliozentriker immer zahlreicher, und heute, in Zeiten von Mondflügen und Weltraumstation, haben sie sich zweifellos durchgesetzt. Die katholische Kirche rehabilitierte Galilei erst am 2. November 1992.
„Die Zeit ist allgemeingültig und nicht relativ”
In der klassischen Physik vergeht die Zeit überall gleich, und das galt lange als absolut allgemeingültig. Die 1905 von Albert Einstein aufgestellte spezielle Relativitätstheorie beschreibt dagegen spezielle Zeitphänomene bei Beobachtern, die sich relativ zueinander mit annähernder Lichtgeschwindigkeit bewegen: Bei solcher Geschwindigkeit vergeht die Zeit viel langsamer als bei gewohnten Geschwindigkeiten oder bei Stillstand. Nicht Zeit ist das ewig Gleichmäßige, sondern die Lichtgeschwindigkeit. Vorher hatte die sogenannte Ätherhypothese (Annahme, die Welt sei mit einer Art „Äther” als Träger elektromagnetischer Wellen gefüllt) der aus der Elektrodynamik folgenden Konstanz der Lichtgeschwindigkeit widersprochen. „Kein Objekt und keine Information kann sich schneller bewegen als das Licht im Vakuum. Nähert sich die Geschwindigkeit eines materiellen Objektes der Lichtgeschwindigkeit, so strebt der Energieaufwand für eine weitere Beschleunigung über alle Grenzen."[4]
Sie ist dem Normalmenschen völlig unverständlich und widerspricht persönlicher Erfahrung. Aber es gab keine Erfahrung mit so schnell bewegten Objekten. In der frühen Sowjetunion galt sie als antimaterialistisch und spekulativ. Die Volksrepublik China lehnte sie zwischen 1966 und 1976 auf Basis des dialektischen Materialismus als „westlich” und „idealistisch-relativistisch” ab.[5]
Inzwischen ist die Relativitätstheorie mehrfach bestätigt[6], aber außerhalb technisch ausgebildeter Kreise keineswegs akzeptiert. Sie ist aber für praktische Anwendungen wie die Satellitenortung (GPS) wichtig: „Da sich Empfänger und Satelliten sehr schnell umeinander bewegen, treten relativistische Effekte auf, die zu geringfügigen Abweichungen führen können.”[7] Einstein wiederum empfand die Quantentheorie als „spukhaft”.
Wirtschaftstheorien: Auf Vermutungen gebaute Ideenwelten
Es halten sich u.A. ohne strenge wissenschaftliche Fundierung: Das Märchen vom Arbeitsmarkt als Bestimmer der Beschäftigungshöhe, Zurechnung des Gesamtgewinns als Vergütung eines „Produktionsfaktors” Kapital, oder eine Wirtschaftserklärung durch Faktor-„Werte”, Nutzen-Abwägungen und unterstellte Gleichgewichtstendenzen von Angebot und Nachfrage. … (ironisch: von Riesen und Zwergen, Geistern und gütigen Feen und anderer Mythologie) ...
Politik: Populismus und „handwerkliche Fehler”
Der Bevölkerung kann die Politik zunehmend keine Sachinformationen mehr zumuten. Die Akademisierung der Entscheider, der Bezug auf unverstandene Notwendigkeiten und Mechanismen, und nicht-öffentliche Entscheidungen abseits verbreiteter Meinungen erzeugen Misstrauen gegen „die da oben”, deren „ExpertenSprech”, und lässt „fakenews” sprießen, die leichter geglaubt werden.
Das wiederum verführt Politiker dazu, populären Strömungen nachzugeben, einfache und vereinfachte Lösungen zu suchen und damit letztlich „handwerkliche Fehler” zu begehen mit unberücksichtigten Wirkungen, die nicht dem Versprochenen und Erwarteten entsprechen.
Kann man Popularitätstrends durch wissenschaftlich begründete, aber von Jedermann bedienbare und selbsterklärende Modelle „zum Anfassen und Auspro­bieren” entgegenwirken? Es wäre mein Ziel — vor allem in der Makroökonomie.
Die Beispiele zeigen auch, dass, wenn die Themen in den Schulen aufbereitet und gelehrt werden, das Verstehen von Zusammenhängen verbreitet wird, die eigentlich der Intuition widersprechen. Das gibt Hoffnung. Kaum etwas wirkt so wenig intuitiv wie die zentralen Erkenntnisse der modernen Makro-Ökonomie.
Oskar Fuhlrott,