Q - Makroökonomische Verteilungstheorie

Die von J. M. Keynes begründete, inzwischen von bilanziell ausge­richteten Geldtheoretikern ergänzte Makroökonomik[1] (sie behandelt auch die Einkommens- und Ver­mö­gens­verteilung) hat die unbedingte Vermei­dung der sich leicht einschlei­chen­den populären Trug­schlüsse (→fallacy of composition!!!) zur Voraussetzung, denn: „nicht Alle kön­nen überdurch­schnittlich sein”, und mi­kroökonomische Größen dür­fen nicht zu den makroökonomischen noch dazu addiert werden. Leider scheint das Wissen um und das Erkennen von Trug­schlüs­sen (wofür es ausführliche Regelwerke[2, 3] gab) in der Ökonomik seit Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre wieder abzunehmen, und es wer­den sogar Wirtschaftsnobelpreise für Theorien mit solchen Fehlern und Trugschlüssen vergeben.

1. Die Primärverteilung der Einkommen

Die Primärverteilung drückt sich aus im Verhältnis der Lohn-/Gehalts­einkommen zu Einkommen aus Ausschüttungsrechten (inkl. Dividen­den und Zinsen).

1a. Arbeitnehmerseite: Nominallohn und Reallohn

Nominallöhne sind die tatsächlich bar oder aufs Konto ausgezahlten Löhne / Gehälter. Sie werden entweder — bei Vorliegen von Tarifbin­dung — von den Tarifparteien ausgehandelt oder andernfalls von der Arbeitgeberseite festgelegt (beides wäre eine exogene Verursachung).

Die Kaufkraft-korrigierte Entwicklung (Reallohnreihe) folgt dagegen der Pro­duktivitäts­entwicklung: Es ist „… Tatsache, dass die Reallöh­ne endogen und simul­tan mit der Beschäftigungshöhe bestimmt wer­den und folglich keine Stellgrö­ße (Determinante) des Systems sein kön­nen (sondern Resultante sind)”[4, S. 8]. Es „kann der Real­lohnsatz nicht als Politikvariable von den Arbeitsmarktpar­teien fest­gelegt oder ausgehandelt werden, sondern er er­gibt sich endogen, nach­dem der Nominallohnsatz gesetzt und das Aktivitäts- und Be­schäfti­gungsni­veau mittels effektiver Nachfrage bestimmt wurden.”[4, S. 13]

Das Aktivitätsniveau bezeichnet den zur Befriedigung der erwarteten Nachfrage ge­rade erforder­lichen Produktionsumfang. Das Beschäftigungsniveau beschreibt dann den zur Erzielung dieser Pro­duktion nötigen Arbeitsaufwand.

Eine Beeinflussbarkeit der Reallöhne durch die Nominallohn-Festlegun­gen wird eher durch neoliberale Vorstellungen behauptet.”[5, S. 15]

Die gesamtwirtschaftliche Arbeitsproduktivität (kurz Produktivität) ist „definiert als das Verhältnis von Bruttoinlandsprodukt (BIP) … in konstanten Preisen zur Ein­satzmenge an Arbeitsleistung (gemessen … an den geleisteten Arbeitsstunden)”[6].

Eine zu starke Nominallohn-Entwicklung hat inflationäre Wirkungen, eine zu schwa­che wirkt deflationär, und Arbeitsplätze gehen verloren. Bei Tarifverhandlungen achten die Parteien auf „den ‚neutralen Ver­teilungsspielraum’, das heißt den lohnpolitischen Spiel­raum, der die Relationen zwischen Unter­neh­men und Arbeit­nehmern nicht verändert … Grundlage dafür ist zweierlei: der Trend der gesamt­wirtschaftlichen Produktivitätsent­wick­lung und die entsprechend dem Stabilitätsziel der Europäischen Zentralbank zulässi­gen Preissteigerungen”[7]. Der Haken: Es geht um zukünftige Produktivität und zukünfti­ge Preissteigerun­gen. Beide können vorab nur geschätzt werden. Die Wahl des Preisin­dex berührt die Interessen der bei­den Parteien. Im Interesse der Arbeitgeber (Kosten­aspekt) liegt ein Gesamt-Preisindex, der auch Investi­tionsgüterpreise einbezieht. Im In­teresse der Arbeitnehmer (Kauf­kraftaspekt) wäre ein zugrundeliegender Warenkorb der von Ar­beitnehmern bezo­genen Güter und Dienstleistungen.

Das Konzept des Reallohns dient dazu, die inflatorischen Anteile herauszurechnen. Real­löhne gibt es nicht isoliert. Die Frage „wie hoch war der Reallohn am Datum x?” ergibt keinen Sinn. Sinnvoll wäre „wie hoch ist der Reallohn am Datum x, wenn die Reallohnrei­he am Datum y begann?”. Jede Real­lohnreihe ist auf ein Anfangsda­tum bezo­gen. Alle Real­lohn-Angaben entstehen durch Multiplikation von Nominal­lohnwerten mit sog. Defla­toren, die den Wertverfall durch Preisniveau-Steigerun­gen wiederge­ben. Am Anfangsda­tum gleicht der Reallohn genau dem No­mi­nallohn des gleichen Da­tums (Deflator = 1).

Reallöhne lassen sich nur als sich entwickelnde Reihe ab einem Anfangsda­tum berechnen und können dann mit der entsprechenden Produktivitätsentwicklung verglichen wer­den. Da der Wert der Gesamtproduktion immer höher ist als die Nominal­lohn­summe (sonst bräche die Marktwirtschaft zusammen), ist zu je­dem Zeit­punkt auch die Produktivität betragsmäßig deutlich höher als der ent­spre­chen­de Ge­samt-Nominal­lohn. Dar­aus folgt, dass der Wertebereich der Pro­duktivi­täten über dem der Reallöhne liegt, allerdings beide in Euro und mit möglicher Überlappung. Solche Kurven müssten nicht ineinander verwoben, sondern eher über/unterein­ander gezeichnet werden. Meldungen über gegen­über der Produktivität zurückblei­bende Real­löhne gehen auf eine täuschende grafische Darstel­lungsweise zu­rück.

Resultat: Die Reallöhne können weder von Gewerkschaften noch von Unter­nehmern (außer über Produktivitätsänderungen) noch von der Politik beein­flusst werden. Aufgrund unterschiedlichen Zeitbedarfs von Anpassungsprozes­sen kann die Entwicklung von der Produktivitätsent­wicklung etwas ab­wei­chen.

1b. Anteilsberechtigte: Gesamtgewinn und Gewinnausschüttung

Die Gesamtgewinn-Quellen können in einer kompletten Liste auf­geführt werden (Brian Romanchuk[8, 9], ähn­lich Jerome Levy und Michał Kalecki[10]):

Sach-Investitionen* =
*) d.h. ohne die nachfrageunwirksamen Lagerinvestitionen
aus früher einbe­haltenem Gewinn + Aufnahme / − Tilgung
  von Investitionskrediten
Konsum der Kapitalisten = aus früher ausge­schüt­tetem Gewinn - Sparen/+ Sich-Verschul-
  den der Kapitalisten
Konsum der Arbeitnehmer = aus früher gezahl­tem Lohn/Gehalt - Sparen/+ Sich-Verschul-
  den der Arbeitnehmer
Staatsdefizit = Staatsausgaben − Steuern und Gebühren
Leistungsbilanz-Uberschuss = Exporte − Importe
= Gesamt-Umsatz (monetär)
− Gesamt-Faktorkosten (mon.) = ausbezahlte Löhne/Gehälter
= Gesamt-Gewinn (monetär)

Es gibt keine anderen Quellen des Gesamtgewinns[11]. „Für die Öko­nomie als GANZE spielt weder Produktivität noch Monopolmacht eine Rolle”[12, übersetzt] — andere Behauptungen sind einer Fallacy of Com­position aufgesessen. Denn be­trieb­liche oder marktmäßige Gewinnur­sachen verteilen sich mikroökono­misch und addieren sich nicht dazu. Gleichzeitig sind obige Quellen des Ge­samtgewinns so heterogen,  dass eine zyklische Gewinnentwicklung (Konjunktur/Rezes­sion) nicht zu erwarten ist. Die Aus­schläge erfolgen eher erratisch.

Zur objektiven Berechnung der Verteilung muss dem Reallohn natür­lich auch ein Kaufkraft-bereinigtes Kapitalisten-Einkommen gegenüber gestellt werden. Nur die ausgeschütteten Gewinne gehen in die Ein­kommensverteilung ein. Diese Gewinnanteile erhöhen, wenn sie nicht für den Konsum genutzt werden, die Privatvermögen der Bezieher.  Einbehaltene Gewinne erhöhen über die Investitionen — unter Risiko — die Firmenvermögen und damit ihre wirtschaftliche und schließ­lich auch politische Macht.

Eine Änderung der Eigentumsverhältnisse oder der Ausschüttungs­rechte müss­te nicht das Marktsystem beenden. Fälschlich wird dem marktwirtschaftlichen System ein Wachstumszwang zugeschrieben, mit teils haarsträubenden Analy­sen [so bei 13] (es ist aber kein Wachs­tumszwang, sondern ein „Gesamtgewinn-Zwang”, und der Gesamtge­winn hat ersichtlich ganz andere und kaum beein­flussbare Ursachen als Investitionen und Wachstum).

Für jede Art von Markt­wirtschaft gilt die Überlebensbe­din­gung[14]: Sinkt der Gesamtum­satz länger unter die Gesamt­lohnkosten (was ohne lange Vorwarnzeit gesche­hen kann), brechen die Erwar­tung zu­künftiger Gewinne, die Investi­tionstätigkeit, die Marktwirt­schaft und das Geld­system final zusammen, alle geldlichen Vermögenswerte (auch alle Schulden) werden null, andere Vermögens­teile sind kaum ver­wertbar, und das Indu­striezeitalter endet — a final turning point.

2. Die Sekundärverteilung der Einkommen

Dieser unregelmäßige Konzentrationsprozess der Primär-Einkommen ist sys­tembedingt, konjunkturunabhängig, nicht staatlich/politisch steuerbar, letztlich unaus­weichlich und wirkt immer zugunsten der Unternehmenseinkommen. Er ist nur durch Umverteilung (Sekun­därverteilung durch progressive Steuern, Vermö­genssteuern, der Erb­schaftsteuer, Extra-Abgaben, Sozialleistungen, Zuschüsse, Hilfen, Un­terstützungen) begrenzbar (aber wohl nicht umkehrbar).


Der herkömmliche Begriff „Kapitalismus” bezeichnet eine Wirtschaft mit Ge­winnausschüt­tung an bzw. Verlusthaftung von Firmenteilhabern, mit entsprechenden Anteilsrechten. Zwar sind sie meist an ein eingelegtes Kapital gebunden, doch können sie auch ohne Kapital auf geistigem Eigentum oder „Persönlichkeit” beruhen. Gewinne („Profite”) aber brauchen alle Unterneh­men schließlich zu ihrem Überleben — auch nicht-kapitalistische.


[1]) Nicht zu verwechseln mit der mainstream-Makroökonomie eines Robert Lucas (oder Bernd Lucke), die sich eine Ökonomie aus repräsentativen Agenten denken — gemessen an Keynes‘ Anforderung eine Provokation.
[2]) Wolfgang Stützel: „Volkswirtschaftliche Saldenmechanik”. Mohr Siebeck Verlag, 2. Auflage 1978 (1.11.2011). Betont wird die systematische Ableitung Partialsatz → Satz zur Größenmechanik → Globalsatz.
Siehe auch Fritz Helmedag: „Grundlagen der Makroökonomik”, Teil I. TU Chemnitz, 2.6.2013, Seite 11.
[3]) Johannes Schmidt: „Sparen — Fluch oder Segen?”. Anmerkungen zu einem alten Problem aus Sicht der Salden­mechanik. In: Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Richard Sturn (Hrsg.): Normative und institutionelle Grundfra­gen der Ökonomik, Band 11: Lehren aus der Krise für die Makroökonomik. Metropolis-Verlag, Marburg 2012.
S. 62: „Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang nicht einmal so sehr die Frage, ob man die Krise aus keyne­sianischer, neoklassischer oder anderer Perspektive betrachtet; vielmehr geht es um sehr viel elementarere Zusammenhänge, die in der wirtschaftspolitischen Diskussion nicht ausreichend beachtet werden. Meine These: Der wirtschaftspolitischen und auch der wirtschaftstheoretischen Diskussion mangelt es an einer Berücksichti­gung der grundlegenden saldenmechanischen Zusammenhänge.”
S. 64: „Das wesentliche Anwendungsgebiet der Salden­mechanik in der Wirtschafts­theorie ist die Analyse von Geldvermögensströ­men.”
[4]) Arne Heise: “Postkeynesianismus. Ein heterodoxer Ansatz auf der Suche nach einer Fundierung.” ZÖSS, Univ. Hamburg, Discussion Papers, ISSN 1868-4947/69, Sept. 2018. S. 14: „Der einzige” unberücksichtigte „syste­matische Einfluss … ist der … Realkasseneffekt. Eine konstante Geldmenge bei sinkendem Preisniveau führt zu einer steigenden Realkasse, die durch Umschichtung des gewünschten Portfolios aus Geld, Konsumgütern oder Bonds zu einer Erhöhung der Konsumnachfrage oder einem Sinken des Zinssatzes und folglich steigender Inve­stitionsnachfra­ge führen muss …”.
[5]) Eckhard Hein, Arne Heise, Achim Truger (Hrsg.): “Löhne, Beschäftigung, Verteilung und Wachstum. Makroöko­nomische Analysen.” Metropolis-Verlag, Marburg 2005. Einleitung, S. 15: „Allerdings litten neoliberale Politiken … unter einigen gravierenden Fehlschlüssen von der einzelwirtschaftlichen auf die gesamtwirtschaftliche Ebene: Lohnsenkungen möchten die Rentabilität eines einzelnen Unternehmens steigern; gesamtwirtschaftlich sei es jedoch sehr wahrscheinlich, dass der Warenabsatz aller Unternehmen insgesamt in Mitleidenschaft gezogen werde, wodurch sich die Beschäftigungssituation verschlechtern könne. Insbesondere missachteten neoliberale Politikmuster die gegenseitige Beeinflussung von Reallohn- und Produktivitätswachstum”.
[6]) Robert K. Frhr. von Weizsäcker: “Arbeitsproduktivität”. Gabler Wirtschaftslexikon, 2019.
[7]) Interview mit Gustav Horn: „Gesamtwirtschaftliche Entwicklung zählt”. Böckler Impuls 02/2008.
[8]) Brian Romanchuk: “Primer: The Profit Equation (Part I)”. Bond Economics, 27.6.2018.
[9]) Brian Romanchuk: “Primer: The Profit Equation (Part II)”. Bond Economics, 4.7.2018.
[10]) S. Jay Levy: “Profits — The Views of Jerome Levy and Michał Kalecki”. Levy Institute, Working Paper No. 309, August 2000.
[11]) Also haben angebliche (volkstümlich vermutete) Einflussgrößen auf die Einkommensverteilung wie Ausbeu­tung, Finanzialisierung, Kartelle, Kolonialismus, Mindestlohn, Monopole, Reservearmeen usw. nur mikroöko­nomische Effekte. Sie bestimmen nur die Verteilung innerhalb der jeweiligen Gruppen (dort allerdings teilweise drama­tisch).
[12]) Egmont Kakarot-Handtke: “How the American working class can bring overall profits down to zero without bloody revolution”. Comment on anne on ‚Corporate profits are near record highs. That’s a problem’. Blog-Reference, 1.4.2016.
[13]) Hans Christoph Binswanger: „Die Wachstumsspirale”. Metropolis-Verlag, Marburg (2006), 4. Auflage, 21.1.2013.
[14]) Egmont Kakarot-Handtke: “Mathematical Proof of the Breakdown of Capitalism”. MPRA Paper No. 52910, 13.1.2014.

Oskar Fuhlrott,