Warum stießen Gewaltlosigkeit und Neutralität an ihre Grenzen?

Minen, Artillerie oder Bomben können die Opfer wahllos und unabhängig von Mut oder Aktivitäten, insbesondere auch unbe­teiligte Zivilisten treffen, verwunden oder töten — wie Terror. Daher gab es immer auch die Suche nach gewaltlosen Wegen.

Eine Aufzählung gewaltfreier Mittel

Handlungsmöglichkeiten … Rechtliche/ökonomische Grenzen
• Barrikaden auf Straßen und Flugplätzen, Panzersperren im Gelände, Blockaden von Häfen, Sprengung von Brücken, usw.
• Die ganze Palette des organisierten gewaltlosen Widerstands nach Mahatma Gandhi (siehe auch ANC-Aktionen gegen Südafrikas Apartheid)
• → tschechische Widerstandsmethoden 1968: Verstellen der Straßenschilder und Wegweiser; mobile Geheimsender im Bahnnetz unterwegs
• Sabotage gegen Sachen, weiterhin: Methoden gegen die Moral der Invasionstruppen (zu entwickeln und zu trainieren)
• Direkte verborgene Informationsversorgung aus dem Geheimdienst eines Drittstaats Könnte den Drittstaat zur Kriegspartei machen.
• Cyberattacken auf Netze, Versorgungsbetriebe, Organisationen; Propaganda, Spionage Sehr umstritten, aber Quelle schwer nachweisbar
• Finanzsperren gegen wichtige Personen. Ökonomische Sanktionen gegen den Handel. Schaden entgangener Geschäfte ist beidseitig immer exakt gleich (Kaufpreis=Verkaufspreis)

Offenbar gibt es aber kaum Möglichkeiten, sich gegen Minen, Artillerie oder Bomben gewaltlos zu wehren. Eine Ächtung die­ser Waffen — wie bei ABC-Waffen, Streumunition usw. — ist nicht mehr zu erwarten bzw. nicht durchzusetzen. Daher arbeien alle Armeen mit diesen Waffen und müssen es zwangsläufig tun. Einige gewaltlose Alternativen wären manchmal möglich …

Das moralisches Dilemma daraus kann nur durch Denken in getrennten Ebenen und Phasen aufgelöst werden:

1. Ebene: Menschliches Mitgefühl für beide Seiten vor einer Entscheidung zum Kampf (Gesinnungsethik).
2. Ebene: Effektivität, d.h. inmitten des Kampfes konsequent bleiben: größtmöglicher Schaden beim Gegner bei geringstmög­lichem Schaden auf der eigenen Seite — und dabei ohne moralische Skrupel (Verantwortungsethik).
3. Ebene: Mitfühlende Abwägung, ob Weiterkämpfen noch im „richtigen” Verhältnis zu erwarteten Leiden steht (gemischte Ethik). Entscheiden aber müssen sich die betroffenen Staaten selbst (keine paternalistische Haltung einnehmen!).

Militärbündnisse und Neutralität in Zeiten des Völkerrechts

Die Charta der Vereinten Nationen schützt auch kleine Staaten, indem sie jedem Staat das Recht gibt, einem angegriffenen Staat militärisch zu helfen. Neutrale, nicht ständig bedrohte Staaten könnten so mit geringeren Militärausgaben auskommen. Ein Paradies der Friedlichkeit?

Militärbündnisse und Neutralität in Zeiten des Neo-Imperialismus

Staaten können von neo-imperialen Staaten bedroht werden, wenn sie nicht ein Verteidigungsbündnis schützt. Relativ sicher ist Neutralität nur für allseitig durch nicht-feindselige Nachbarn umgebene Staaten (Schweiz, Österreich). Ex-Minister Schily empfiehlt mit der „mustergültigen” Schweiz ein Ideal, das auf die Ukraine nicht passen kann. Ungeschützte Grenzen und Nä­he eines Neo-Imperialisten setzten sie hoher Gefahr aus (wie Finnland und Schweden). Das hatte Finnlands Präsident Niinistö frühzeitig in Gesprächen mit Putin erkannt und nach Russlands Angriff auf die Ukraine auf schnellen NATO-Beitritt gedrängt.

Oskar Fuhlrott, 22.7.2022; abgerufen am